Reinhard Scherer
Raumortung –
ein Rundgang
„Raumortung“
Reinhard Scherer, in dessen Werk sich Kunst und Technik durchdringen, versteht Bildhauerei als „Topos“ im Wortsinn – für ihn gleicht metallplastisches Gestalten der Schöpfung eines lebendigen Raumes, eines „Ortes“, dem er im Werkprozess einen Körper und eine unverwechselbare Identität verleiht.
Der Künstler besteht auf „taille directe“ – eigenhändiges Gestalten und der unmittelbare Kontakt mit dem Material sind für ihn Voraussetzung künstlerischer Arbeit. Mit radikaler Strenge konzentriert er sich auf wenige elementare Formen und entwickelt ein eigenes Alphabet, dessen raumumspannende, lebendige Rhythmik und plastische Vitalität in der Ausstellung „Raumortung“ beispielhaft erfahrbar wird.
Gerade in der Beschränkung auf wenige Formelemente, die er immer wieder neu kombiniert, erschließt er eine große Vielfalt plastischer Möglichkeiten. In seinem Werk finden sich harte Wände, straffe Rippen- und Balkenformen, aber auch weich modellierte Schalenformen und Kreissegmente. Sie bilden rhythmisch bewegte und sensibel ausbalancierte Körper mit geraden und gekrümmten Flächen, die sich in den Raum öffnen.
Reinhard Scherer ist ein eminent sinnlicher Gestalter. Die semantische Bedeutung der Formen lässt er offen. Die Schwere des Metalls hingegen kann man buchstäblichfühlen. Auf geradezu physische Weise wird der Betrachter in den Wahrnehmungsprozess eingebunden und erfährt die Skulptur ausgehend von seiner eigenen Körperlichkeit. Schweißnähte, Kanten und Schnitte gleichen gerichteten Linien und eröffnen eine Vielzahl von Blickwinkeln, ein komplexes Beziehungsgefüge von Achsen, Massen und Winkeln entfaltet sich gerade in der Gegenüberstellung kontrastierender Formen und kontroverser Objekte.
Im Raum dominiert der rostrote Farbton des oxidierten Stahls, der wie ein Fries von den geglühten, gestrahlten und gewachsten schwarzen Formen seiner Wandobjekte umschlossen wird.
„Dynamische Kontur“
Der Sockel betont die hieratische Aufgerichtetheit und fordert zum allseitigen Umschreiten der schlanken, leicht geneigten Figur auf. Scherer befreit die Kontur aus ihrer Bindung an die Körperlichkeit und setzt ihre Funktion als Grenze zwischen Innen und Außen außer Kraft, ihr Körper wird zur Fläche. Die kühn überlängte Stahlfigur, die mit dramatischem Schwung förmlich in den Raum schnellt und sich vom Boden zu lösen scheint, gibt der Ausstellung „Raumortung“ eine offene Kontur – eine gelungene Metapher für den unendlichen Raum, aus dem Reinhard Scherer seine Inspiration bezieht.
„Moment der Balance“
Vor dem Körper stehend, trifft der Blick mitten in das wie aufgebogen wirkende Objekt und durchdringt es zugleich: ein breiter Einschnitt öffnet auch die Rückwand.
Die imposante Raumplastik „Moment der Balance“ erkundet das Leervolumen. Es handelt sich um eine Cortenstahl-Konstruktion aus ebenen Flächen – unregelmäßige Dreiecke, verschobene Rechtecke und Parallelogramme, an denen sich der Umraum dynamisiert. Sie folgen keiner bestimmten geometrischen Ordnung, sie widersetzen sich eher. Das reich gegliederte Objekt erinnert an eine geöffnete Truhe oder Muschel.
Der Kontrast zwischen Statik und Dynamik, vermeintlich geschlossener Form und bühnengleich sich öffnendem Raum erzeugt eine dialektische Spannung. Man sieht den Körper von Innen und Außen, vielfach in den Raum aufgebrochen und dazwischen in ruhigen Formen konzentriert. Die Schweißnähte lesen sich wie freigelassene Linien, an denen sich der Werkprozess offenbart. Das geradezu physisch spürbare Gewicht des Objekts setzt sich im gleichen Atemzug außer Kraft, denn der Körper stemmt sich gegen die Gravität, als wolle er die Schwerelosigkeit erzwingen. In einem faszinierenden Balanceakt werden die Belastungen des Eigengewichts aufgefangen, die Auflagefläche minimiert. Ergebnis ist eine lebendige, energiegeladene Leere, wie die Stille nach einem Akkord.
„Wanderung der Formen“
Es gibt Grund-Posen (Stehen, Sitzen, Liegen), deren Prinzipien der Künstler nicht kopiert, sondern sich künstlerisch aneignet. In der wie gefaltet wirkenden Serie „Wanderung der Formen“ entwickelt er mit geglühtem, gestrahltem und gewachstem dünnen Stahlblech eine eigene Formensprache. Die Schwere des Materials wird durch die „Faltungen“ konterkariert und hinterlässt den Eindruck ruhig in sich bewegter Körper. Seitlich ausgreifend oder in sich geschlossen, sich teilend, verdoppelnd oder auch in Wendung zeigen die vielfach modulierten abstrakten Formen linear gerichtete Bewegungen im Raum. Plane Flächen und nach oben drängende Winkel stehen sich gegenüber und setzen den Gedanken bipolarer Kraftfelder frei. Positiv- und Negativformen alternieren. Modellhaft erkundet Scherer in der faszinierenden Werkgruppe das Leervolumen und stützt sich auf zwei fundamentale Aspekte von Raum: Vakuum und Begrenzung.
Arbeiten auf Papier
Das Linienspiel der Objekte, ihre Anordnung im Raum und die Farbigkeit des Metalls stellen eine gelungene Verbindung zu den Arbeiten auf Papier her.
Scherers Tuschezeichnungen sind Übungsstücke zur Übersetzung einer plastischen Form. Sie erfolgen in schnellem Rhtythmus und fixieren die erste Idee, das Werk selbst jedoch entsteht frei. Im Laufe der bildhauerischen Arbeit korrigiert sich der zeichnerische Entwurf selbst, wird erweitert und präzisiert. Anders die Graphik. Für Reinhard Scherer ist das Eisen Substanz, Inspiration und Widerstand, aus denen sich seine Kunst formt, ihm lässt er seinen „Willen“. Innerhalb seines Werks stellen die Stahlprägungen eine bedeutende Serie dar. Hierzu werden im Schmiedefeuer ausgebrannte Metalldruckstöcke unter Hochdruck (10 Tonnen) mittels eines Schlosserkranes auf angefeuchteten Kupferdruckkarton gepresst. Auf dem Büttenpapier hinterlassen die Druckstöcke tiefe Prägungen – faszinierend zarte Zeichnungen, deren sensible Pigmentierung aus Rost und Zunderschicht sich allein physikalischen Kräften verdankt. Mit balkenartig geschlossenen, mitunter auch gekrümmten Formen schafft er im freien Raum der weißen Papierflächen ein schwebendes Spannungsfeld fragil zentrierter Körper. Die Kompositionen erinnern an Grundrisse, lassen an Spuren längst vergessener Kultplätze denken, deren archaische Wirkung durch das naturhafte Kolorit unterstützt wird, als hätten sie eine Haut aus Zeit.
„Geschützter Raum“
Die markante Raumplastik öffnet sich wie eine schützende Hand. Mit massiven Plattenstücken entwirft er einen Körper, der aufnimmt, aber nicht einschließt, der trotz der Schwere des Materials nicht gefangen hält, sondern durch die Offenheit der Konstruktion besticht.
Das Objekt hat drei Auflagepunkte. Die massiven Flächen, die sich durch ihr Gewicht gegenseitig in Balance halten, korrespondieren. Und doch scheinen die Gewichte verlagert. Widerstrebende Bewegung wird wachgerufen, um Halt zu bilden.
Traditionell erwartet man das schwere Gewicht unten – er zeigt es links in oberer Lage. Dort stabilisiert es die Konstruktion, der Druck von oben hält sie zusammen. Um zu stabilisieren, wird zusammengerafft. Zugleich entsteht Bewegung, die Assoziation von Sich-Anlehnen und Sitzen wird wach - das Suchen und Finden von Halt.
„Korn“
Schon lange beschäftigt sich Reinhard Scherer mit der Struktur seiner Werkstoffe. Die Eisenkristalle des Erdkerns nehmen unter dem großen Druck, der dort herrscht, die Form eines Würfels an. Die nur mikroskopisch erfahrbare Gestalt des Eisenkristalls, Korn genannt, ist Vorlage für seine mehrteilige Werkgruppe „Korn kristallin“. Die Objekte sind wie eine Spur im Raum arrangiert und stehen neben einer Kopfform. Die schweren Körper gemahnen an die Geheimnisse der Natur, lassen eine Analogie zwischen Natur und schöpferischer Handlung entstehen – als unterlägen Natur und Kunst den gleichen Gesetzen. Scherer verweist auf die Bausteine der Natur, auf ihre hinter der sichtbaren Wirklichkeit liegende Ordnung. Auch wenn er hier in die Dimensionen des vermeintlich Unsichtbaren vorstößt, bleibt er dem Materiell-Stofflichen verbunden.
„5teiliger Ort/Türme “
Den Eindruck von ehernem Alter, Festigkeit und Schwere sucht er in der rau und dunkel gehaltenen Oberfläche seiner „Türme“ zu aktivieren. Die Werkgruppe erinnert an sich neigende Basaltsäulen und ist wie ein sinkender Kultplatz arrangiert. Der Eindruck von Elementarem, Archaischem entsteht.
„Wandzeichen“
Eisen, das der Künstler formt, ist eine starke, unnachgiebige Kraft. Die Spannung muss er ihm aufzwingen. Schmieden heißt Kräftemessen.
Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür ist Scherers frühe Arbeit „Wandzeichen“, in der ein ebenso kraftvoll wie sensibel geschmiedeter und gebogenener Vierkantbogen eine an den Rändern gewölbte Raumecke in sauberem Schnitt durchbricht. Raumecke und glatte Flächen stehen neben der Linie, einer Zeichnung im Raum, die die Spuren des Schmiedehammers nicht verleugnet. Die korrespondierenden Kreissegmente machen das Objekt zu einer spannungsvollen Komposition. Es lässt zugleich an Waffen, Trophäen, an das Motiv von Pfeil und Bogen denken und bringt das eherne Zeitalter in Erinnerung - die Kulturgeschichte des Eisens.
„Netzwerk“
Leichtigkeit der Form und Schwere des Materials sind kein Widerspruch, sondern für Scherer Quelle der Inspiration. Der Künstler spielt mit Gegensätzen, die er in immer neuen Varianten und Kombinationen auf ihre formalen und inhaltlichen Möglichkeiten untersucht. Seine Netzwerke gleichen Zeichnungen im Raum. Die Faszination durch weit gespannte Spinnennetze war das auslösende Moment für vielschichtige Linienkompositionen, die das offene Volumen ersetzen.
In ihnen dominiert die Idee der Geraden, doch ist die Linie frei und scheint in alle Richtungen zu wachsen. Die aus Stahlblechen geschnittenen Streben überlagern sich, Schweißpunkte werden zu Gelenkstellen. Auch hier zählt der Blickwinkel: das abstrakte Gefüge verschließt und entfaltet sich immer wieder neu; steht man seitlich, schiebt sich die Komposition dicht zusammen und es bleibt der Eindruck drängender Kraft.
„ Asyl“
Teil der „Raumortung“ ist auch eine Konstruktion aus Europaletten – sie wirkt wie ein Provisorium und steht mitten im Raum. Als seien nach dem Transport nicht alle Kunstwerke ausgepackt worden. Als würde hier Geheimnissen seiner Kunst Asyl gewährt. Betritt man den Raum, offenbart er sich als „Schatzkammer“: kleine schwere Kostbarkeiten aus Vollmaterial, Schlüsselwerke von 1994 bis 2014, in denen die Vielfalt seines plastischen Vokabulars sinnlich erfahrbar wird. Rauten, Keile und Dreiecke auf Bögen, Kerne, Raumfassungen, Netzwerke und Wölbungen. Darunter aufgerissene Flächen, die sich an glatten Kanten zu halten versuchen, prekäre Balanceakte mit verletzter Kontur. Die Spuren des Schneidbrenners, auch expressive Abrisskanten werden Teil des Kunstwerks. Form erscheint hier als etwas aus der Schwere des Materials Resultierendes, als Geschehen in der Zeit.
„Asymmetrischer Raum“ und „Elemente“
Scharfkantig und mit verlängerter Spitze begegnet uns die raumdominerende Cortenstahlplastik „Asymmetrischer Raum“. Sie überragt den Betrachter und ist steil aufgerichtet wie der Bug eines Schiffes. Sichtbar wird die Idee einer Progression nach oben. Daneben erkennt man die „Elemente“ – ein auf dem Boden ausgebreitetes Periodensystem aus gestrahltem Glas, wie die gläsernen Schollen eines abstrakten Meeres. Die Ordnungszahl 26 - Fe - fehlt. Auf genau diese Fehlstelle im System ist der „Bug“ des eindrucksvoll „kenternden“ Körpers aus Cortenstahl gerichtet. Das imposante Objekt lenkt den Blick in die Höhe und Tiefe zugleich, die Abstraktion des Periodensystems wird aufgebrochen und durch die plastische Gegenwart des Materials sinnlich erweitert. Der schwere, doch wie aufgefaltete Körper erinnert zugleich an das Kinderspiel „Himmel - und - Hölle“ – seine dunkle Öffnung gleicht einem Schlund, einem schwarzen Loch? Raum für die großen Fragen, die noch offenen Fragen der Wissenschaft, die Unbekannten der Forschung.
„La Scala“
Der Rundgang schließt mit „La Scala“, einer faszinierenden Wandarbeit aus knappen rhythmischen Bewegungsformen – Stufen. In dieser jungen Arbeit von 2014 wird plastische Masse in fließende Bewegung und räumliche Spannung überführt – kaskadenartig fallende Stufen verbinden sich in einem geschlossenen Band zu jazzartigen Rhythmen. Auf den ersten Blick dominieren horizontale Impulse, dann aber erkennt man die Gegenstimme, leicht versetzt. Dicht an dicht und doch verschoben verbinden sich die tanzenden Formen zu einem komplexen rhythmischen Spiel.
Lässt man den Eindruck des Ganzen auf sich wirken, erlebt man in der Ausstellung räumliche Kontinua, die immer wieder andere Gestalt annehmen – eine in sich ruhende, geschlossene Dynamik. Beispielhaft verdichtet Reinhard Scherer das Prinzip einer Gleichwertigkeit von Form und Raum, Kontur und Leere. Ihm gelingt, changierend zwischen Transparenz und Transzendenz, die Ästhetik des Fragments und ein sensibel ausbalancierter Dialog der Formen. Was Raum bedeutet, bleibt offen.
Man fühlt sich an Martin Heidegger erinnert, der einst notierte:
„Denn die Leere ist (...) Hervorbringen. Die Leere ist nicht nichts. Sie ist kein Mangel...“
(Die Kunst und der Raum)
Ricarda Geib M.A.
Stuttgart, im August 2015